Die
starke Industrieentwicklung in diesem Gebiet verursachte
entsprechende Veränderungen im sozialen Gefüge der Bevölkerung. Von
den wichtigsten Städten hatten 1818 Hagen 2514, Hattingen 2561 und
Schwelm 2907 Einwohner. Bereits 1839 hatte Hagen mit 4479 Einwohnern
die 3842 Schwelms und 3705 Hattingens überholt. Bis zum Jahre 1938
nahm Hagen dang noch um das 34fache zu, Schwelm aber nur um das
öfache und Hattingen um das 4fache.
Den
Hauptverdienst in unseren Städten hatte in früherer Zeit das Bäcker-
und das Brauergewerbe erbracht, daneben traten die Metall- und die
Textilindustrie. In der ersteren gab es in Hagen 1722 7, 1796 12
Berufsarten, für Schwelm war das Verhältnis 1 zu 7, für Hattingen 3
zu 6; in der Textilindustrie galt für Hagen das Verhältnis 3 zu 7,
für Schwelm 6 zu 10, für Hattingen 5 zu 8.
Das
Handwerk war in Gilden zusammengefaßt. Die Breckerfelder
Stahlschmiedegilde stammt aus dem Jahre 1463, die Bäckerzunft von
1464. Älter waren die 1412 errichteten drei Hattinger Gilden, die
der Kaufleute und Bäcker, der Fleischhauer, Lohgerber und
Schuhmacher, der Schmiede und Schneider; 1606 kam noch die
Wandschneidergilde dazu. Später wurden die Gilden der Hemmschuh
einer gesunden Entwicklung des Handwerks. Seit Ausgang des 16.
Jahrhunderts stemmten sich die Breckerfelder Stahlschmiede gegen die
Anlage von Hammerwerken: Die brandenburgische Regierung entschied zu
Gunsten des Hammerschmieds. Für den Erzeuger zog später der Verleger
oder Kommissionär auf die Märkte; bedeutende Verleger saßen in
Breckerfeld, Hagen, Gevelsberg, Rüggeberg, Sprockhövel und Voerde.
Die Arbeit im Hammer wurde oft durch Wassermangel unterbrochen.
Längere Arbeitslosigkeit brachte den Schmied in die Abhängigkeit des
Verlegers, der dann oft den Hammer übernahm. So und durch
Zusammenlegung der Betriebe wurde der Hammerschmied zum
Fabrikarbeiter. Weber und Wirker brauchten zu ihrer Arbeit nur ein
Zimmer. Der Kaufmann in der Stadt besorgte ihnen die Garne, aus
denen sie in Lohnarbeit unter Mithilfe von Frauen und Kindern Bänder
und Leinen herstellten. Der Wechsel der Moden brachte häufig längere
oder kürzere Arbeitslosigkeit. Die ungesunde Arbeit und die
schlechte Ernährung förderten Krankheiten, besonders die
Tuberkulose. So entstand bei den Metall- und Textilarbeitern ein
Industrieproletariat.
Kirche, Stadtverwaltung und Privatleute nahmen sich der Armen an. In
Schwelm und anderen Orten wurden die Kollektengelder des
„Hagelfeiertages“ sowie die Zinsen der für die Armen gestifteten
Kapitalien verteilt, dazu seitens der Stadtverwaltungen auch Brot
und Fleisch. Herdecke besaß seit 1400 einen Armenfonds, der 1881 die
Höhe von 99.000 Mark erreicht hatte. Schon 1797 hatten Schwelmer
Bürger wegen des Bettelunwesens durch kleine wöchentliche Abgaben
eine „Armenanstalt“ gegründet, wo gegen Bezahlung leichtere Arbeiten
für die Textilindustrie ausgeführt wurden. Um dieselbe Zeit gründete
der Schwelmer Lehrer Schnitler die erste „Sterbeauflage“; der
Beitrag für jeden Sterbefall betrug 6 Stüber. Die älteste Hagener
Sterbekasse datiert von 1810. 1807 bestand in Schwelm auch die erste
Viehversicherung, die für jede gefallene Kuh 40 TIr, vergütete.
Eine
Selbsthilfe bedeutet ebenfalls die Krankenkasse der vereinigten
Gesellen in Hagen von 1851; 1853 folgten die Bauhandwerker; die seit
1854 bestehende Schwelmer vereinigte Handwerker-Krankenkasse
gewährte bei 5—15 Pfg. wöchentlichem Beitrag freie ärztliche
Behandlung, Medizin, Verpflegung und 30 Mark Sterbegeld. Die
Herdecker „Gesellenlade“ datiert von 1855. J. C. Post & Sohn in
Hagen war die erste Firma, die für ihre Arbeiter eine Krankenkasse
gründete (1855). Erst zwei Jahre später machte die Regierung die
Einrichtung einer solchen Kasse den Fabrikanten zur Pflicht. So gab
es in den Kreisen Schwelm und Hagen 1887 im ganzen 78 Kranken- und
30 Sterbekassen.
Auch
die Sparkassen steuerten der Not. Die älteste ist die in Schwelm
(1846), der Wetter 1852, Vörde und Hagen 1856 folgten. Auch die um
1880 in Hagen und Wetter gegründeten Konsumvereine wirkten mit gutem
Erfolg. 1861 wurde in Hagen auch ein gemeinnütziger Bauverein
gegründet.
Die
Krankenhäuser unsers Gebiets verdanken ihr Dasein meist der
Nächstenliebe, In Hagen kam es 1859. zur Gründung eines
Krankenhauses für verunglückte oder kranke Arbeiter aller
Konfessionen; in Schwelm wurde 1865 der Bau des städtischen
Krankenhauses begonnen. Unter den weiteren Gründungen seien die auf
Pastor Arndt zurückgehenden Volmarsteiner Krüppelanstalten genannt.
Hagen, Funckenhof
Trotz all dieser Maßnahmen entwickelten sich immer stärkere soziale
Spannungen, die sich dann in den Verfassungskämpfen des 19.
Jahrhunderts auswirkten, Diese setzten mit den 40er Jahren ein.
Schon 1830 hatte Friedr. Harkort eine Verfassung gefordert, und auf
dem Provinziallandtag 1845 richtete der Landrat des Kreises Hagen,
Freiherr Georg von Vincke, der Sohn des berühmten westfälischen
Oberpräsidenten, an die Krone den gleichen Antrag. Doch die breite
Schicht unserer Vorfahren war bis dahin noch nicht politisch
geschult. Bei der Wahl am 8. Mai 1848 wurden Friedrich Harkort und
der Gutsbesitzer Karl Funcke aus Vorhalle als Volksvertreter für die
Berliner Nationalversammlung und zu ihren Stellvertreten der
Schwelmer Gerichtsdirektor Schulz und der Rittergutsbesitzer Vorster
auf Haus Hove in Wengern gewählt. Für den Kreis Bochum wählte man
den Kaufmann und Fabrikanten Theodor Müllensiefen aus Witten, als
Stellvertreter den Kaufmann Colsmann aus Oberbonsfeld. Für die
deutsche Nationalversammlung in Frankfurt a. M. wurde in den Kreisen
Hagen und Bochum Georg von Vincke gewählt; er vertrat dann den Kreis
Hagen, sein Stellvertreter war der Schwelmer Kaufmann Joh. Daniel
Bever: im Kreise Bochum trat für ihn ein Dr. Gustav Höfken, ein
geborener Hattinger. Nach den Wahlen wurden zahlreiche politische
Vereine gegründet, so in Blankenstein, Hattingen-Stadt und Amt,
Volmarstein, Wetter, Schwelm und Hagen. An dem demokratischen
Kongreß im Juni in Frankfurt nahm der Deputierte Vollmar aus Wetter
teil. Zu einer im Juni 1848 nach Berlin entsandten
rheinisch-westfälischen Deputation gehörten Friedrich Harkort für
Hagen, für Hattingen der Färber Buscher, die Tuchfabrikanten lbing
und Schäfer, der Justizrat Röder, der Justizkommissar Weygand, für
Schwelm-Sprockhövel der Kaufmann Busche und für Wetter der Kaufmann
Kamp. Die Stimmung in unserer Heimat war im allgemeinen königstreu,
trotz der Notlage des Arbeiters und Handwerkers. In Hagen und an der
Enneper Straße gab es bei Halbtagsarbeit nur halben Lohn und diesen
auch nur in Waren. Die Bürger suchten deshalb durch Reparaturen im
Hause, die Stadtverwaltungen durch Wegebauten Verdienstmöglichkeit
zu schaffen: die Regierung gab Zuschüsse für eine Darlehnskasse, aus
der den Fabrikanten billige Gelder gegeben werden konnten.
Politisch standen sich Konstitutionelle und Demokraten scharf
gegenüber. Trotzdem fand die Aufforderung der Berliner
Nationalversammlung zur Steuerverweigerung im Lande Fritz Harkorts
keinen Widerhall, zumal auch die am 5. Dezember erlassene Verfassung
sehr liberal war. Leider verpuffte die Wirkung durch die ungerechte
Verhaftung einiger allgemein geschätzter Teilnehmer an dem Münsterer
Kongreß am 18. November. Bei der Wahl zur Berliner
Nationalversammlung am 22. Januar 1849 errangen daher die Demokraten
fast ein Drittel aller, nämlich 9 Sitze. In unserm Gebiet siegten
von Vincke (Rechte), Harkort, Brünninghaus und Müllensiefen (alle
„rechtes Zentrum“).
Am
28. März wurde Friedrich Wilhelm IV. zur Freude der Märker von dem
Frankfurter Parlament zum Deutschen Kaiser gewählt. Ihrem Hoch.
gefühl gaben die Schwelmer in ihrer Adresse Ausdruck, in der sie ihn
dringend um Annahme der Krone baten. Umso schwerer war die
Enttäuschung, als der König Krone wie Reichsverfassung ablehnte. Da
kam die Einberufung der Landwehr gegen die Aufständischen in Baden.
Etwa 1500 in Hagen versammelte Wehrmänner protestierten, da die
Landwehr nur gegen einen äußeren Feind eingesetzt werden dürfe. Die
7. (Schwelmer) und die 8. (Hagener) Kompanie sowie ein Hattinger
Trupp sammelten sich in Hagen. Auf die Erinnerung des Kommandeurs
des Iserlohner Bataillons, daß die Wehrmänner dem König den Eid
geleistet hätten; riefen sie: „Wir wollen nicht gegen unsere Brüder
in Baden kämpfen!" Zwei Schwelmer, die sich trotzdem meldeten,
mußten sich durch die Flucht retten. Auf die Kunde von der
Erstürmung des Iserlohner Zeughauses im Mai 1849 zogen etwa 400
bewaffnete Wehrmänner und Mitglieder des demokratischen Klubs unter
der Führung der Hagener Caspar Butz und Caspar Riepe, Karl Post aus
Eilpe und Funcke aus Hattingen, begleitet von zahlreichen Männern
aus Breckerfeld, Dahl, Ende, Enneper Straße und der näheren Umgebung
Hagens nach Iserlohn. Butz, Post und Riepe spielten im dortigen
Sicherheitsausschuß eine große Rolle, die beiden ersten stimmten
sogar — gegen alle Iserlohner Mitglieder — für den Kampf mit den
änrückenden Truppen. Auch Voerde und Volmarstein sagten Unterstütung
zu. Aber nach 4 Tagen kehrten Butz und Post nächtlicherweise
heimlich mit ihrem Hilfskorps nach Hagen zurück, noch ehe Iserlohn
erstürmt war. Butz und Post, dazu Dr. Grevel, der Führer der
Hagener, flohen über Holland nach Amerika, Caspar Riepe wurde in
Iserlohn gefangengenommen; das Schwurgericht in Wesel sprach ihn
später frei. So wurde am 17. Mai über unsere Heimat (mit Ausnahme
von Schwelm) der Belagerungszustand verhängt. Die in Elberfeld'
ausgebrochenen Unruhen endeten mit der viel bespöttelten „Schlacht
bei Remlingrade“ am Südrande des Ennepe-Ruhr-Kreises. Das Iserlohner
Bataillon wurde am 27. Mai eingekleidet und kam bei Waghäusel in den
Kampf, wo der Schwelmer Wehrmann Balz fiel.
Die
Beschneidung der Presse- und der Versammlungsfreiheit, sowie des
Wahlrechts ließen nach der Erregung der Jahre 48 und 49 ein
politisches Stillleben eintreten, die wirtschaftlichen Interessen
drängten sich vor. Doch die Bevölkerung in den Städten nahm stark
zu, und dementsprechend auch das Leben der politischen Parteien und
die Wahlbeteiligung. 1871 betrug die Zahl der Wahlberechtigten
21255, aber abgegeben wurden nur 7122 Stimmen (Klassenwahlrecht!).
Gewählt wurde Fr. Harkort. 1874 wählten von 24.603 Stimmen nur
10.697; von dieser Wahl ab vertrat Eugen Richter, der Führer der
fortschrittlichen, später freisinnigen Partei den Wahlkreis
Hagen-Schwelm. 1887 betrug die Wahlbeteiligung 23.156 von 29.365
Wahlberechtigten. Der einheitlichen politischen Linie des
Wahlkreises Hagen-Schwelm steht die Entwicklung im Kreise
Bochum-Gelsenkirchen-Hattingen gegenüber, die fortschrittlich
begann, dann liberal wurde, weiter zwischen Zentrum und
Nationalliberalismus schwankte, um schließlich sozialdemokratisch,
allerdings gegen starken nationalliberalen Widerstand, zu enden. |